Logo der Deutsche-Argentinische Industrie- und Handelskammer

Wie nachhaltig ist der Aufschwung in Argentinien?

  • News

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika. Die wirtschaftliche Erholung fällt überraschend kräftig aus – doch ihre Fundamente bleiben fragil. Wie belastbar die Stabilitätsanker in der Fiskal-, Geld- und Wechselkurspolitik sind, ist umstritten. Die Regierung Milei wirkt politisch gefestigt, doch der Horizont reicht kaum über die Wahlen im Oktober hinaus. Ob sich daraus ein nachhaltiges Wachstum entwickeln kann, bleibt offen.

Logo Carl Moses
Carl Moses / Carl Moses

In Gesprächen und Konferenzen mit argentinischen Ökonomen geht es in der Regel mindestens 90 Prozent der Zeit um die kurz- bis mittelfristigen Konjunkturperspektiven und die Bewertung der jeweils letzten Maßnahmen in der Finanz- oder der Wechselkurspolitik. Nur in wenigen, gleichwohl entscheidenden Momenten wird die Frage gestellt, auf welchen politischen Grundlagen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eigentlich beruht - nur um zu betonen, wie entscheidend diese für die längerfristigen Aussichten, Chancen und Risiken in Argentinien sind. In diesem Beitrag soll die politische Dimension der Analyse darum im Vordergrund stehen. Denn über eines sind sich die meisten Ökonomen einig: Es mangelt in Argentinien nicht an wirtschaftspolitischen Konzepten, sondern an politischen Strukturen, stabilen Mehrheiten und einem minimalen Konsens, um nachhaltige Strategien gesetzlich zu verankern, umzusetzen und auch beizubehalten. 

 

Wirtschaftsminister Luis Caputo und sein Team erhalten vielfach Anerkennung für ihre verblüffende, mitunter an finanzpolitische Alchemie grenzende Maßnahmen-Akrobatik, mit der sie Haushaltsdefizit, Geldmenge und Wechselkurs in den Griff bekommen haben. Der starke Rückgang der Inflation und die kräftige Erholung der Wirtschaft sind sichtbare Erfolge. Doch überall leuchten auch gelbe und rote Warnlampen auf: unzureichender Aufbau von Devisen, überbewerteter Peso, eine drastische Verschlechterung der Leistungsbilanz ohne Zugang zum internationalen Kapitalmarkt, die Verdrängung lokaler Produktion durch Importe. Alles Schwachpunkte, die Argentinier aus ähnlichen Boomphasen nur zu gut, beziehungsweise schlecht in Erinnerung haben. Bis zu den Wahlen im Oktober dürften Caputos Finanzierungstricks dennoch für anhaltende Stabilität sorgen. "Immer wenn man denkt, so geht es nicht mehr weiter, zaubern Caputo und sein Team ein neues Kaninchen aus dem Hut", sagt ein angesehener Ökonom mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis. 

 

Doch wie dauerhaft kann ein Aufschwung sein, der in weiten Teilen auf dem Substanzverzehr der öffentlichen Infrastruktur beruht? Der Bund hat sich nahezu vollständig aus der Investitionstätigkeit zurückgezogen: Straßen verfallen, Eisenbahnprojekte stocken, Bildung, Wissenschaft und das Gesundheitswesen bluten aus. Eine entscheidende Frage lautet: Können, so wie Milei sich das vorstellt, tatsächlich privat finanzierte Strukturen als Ersatz heranwachsen, bevor dieser teils dramatische Substanzverlust die Entwicklungschancen von Wirtschaft und Gesellschaft paralysiert? 

 

Grundlegende Reformen stehen weiter aus 

 

Die Sondervollmachten für Reformen des Staatsapparates und die Deregulierung der Wirtschaft, die das Parlament der Milei-Regierung vor einem Jahr erteilt hatte, gehen jetzt zu Ende. Zweifellos ist unter dem Deregulierungsminister Federico Sturzenegger viel erreicht worden. Die wirtschaftliche Freiheit hat spürbar zugenommen. Doch grundlegende Reformen, die für eine nachhaltige Entwicklung Argentiniens entscheidend wären, stehen weiterhin aus: am Steuersystem, am Arbeitsrecht, beim Finanzausgleich mit den Provinzen und insbesondere eine Rentenreform, die das System tragfähig machen könnte. All diese Reformen brauchen parlamentarische Mehrheiten. Doch genau daran fehlt es.  

 

Milei regiert bislang ohne bedeutende Vertretung im Kongress auf Basis von Notdekreten und dem Gebrauch seines Vetorechts. Dass sich daran nach den Parlamentswahlen im Oktober etwas ändert, ist wenig wahrscheinlich. Zwar hat sich Milei mit großem Geschick Teile der konservativen PRO-Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri einverleibt. Aber eine eigene Mehrheit ist dennoch nicht in Sicht. Gleichzeitig verschärft sich die Polarisierung des politischen Spektrums, die politische Mitte ist schwach, zersplittert und führungslos. Auf der linken Seite hat Expräsidentin Cristina Kirchner trotz Verurteilung und Inhaftierung abermals an Dominanz im peronistischen Lager gewonnen. Dies verzögert die überfällige Erneuerung des Peronismus.  

 

Der politische Horizont Argentiniens reicht derzeit nicht über die Parlamentswahlen im September (Provinz Buenos Aires) und Oktober (Bundesparlament) hinaus. Eine Stärkung der politischen Mitte ist nicht in Sicht – vielmehr deutet vieles darauf hin, dass auch die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 zwischen radikalen Gegenpolen entschieden werden könnten. 

 

Politische Risiken bleiben hoch 

 

Die Folge ist ein strukturelles politisches Risiko, das auch die wirtschaftliche Erholung konditioniert und fragil erscheinen lässt. Ein erneuter radikaler Kurswechsel nach 2027 ist denkbar – mit unmittelbaren Folgen für das Vertrauen der Investoren und die langfristige Finanzierungsfähigkeit des Landes. Trotz verbesserter Fundamentaldaten kann der Staat seinen Finanzierungsbedarf weiterhin nur zu prohibitiv hohen Risikozuschlägen decken.  

 

Ohne tragfähigen Zugang zu internationalem Kapital bleiben die Möglichkeiten zur Finanzierung von Infrastruktur und strukturellem Wandel auch für die Privatwirtschaft begrenzt. Die Regierung setzt auf die Mobilisierung der außerhalb des Finanzsystems gehaltenen Dollarreserven von argentinischen Privathaushalten und Unternehmen, die ungefähr einem Drittel des BIP entsprechen. Doch Sparer und Anleger halten sich zurück. Die Freigabe des Devisenerwerbs für Privatpersonen im April nutzen eine Million Argentinier erst einmal, um ihre Vorräte von derzeit billigen Dollars aufzustocken. Ausländische Direktinvestitionen sind zwar umfangreich angekündigt - aber die tatsächlichen Kapitalzuflüsse sind noch spärlich. 

 

“Inseln” mit attraktiven Rahmenbedingungen 

 

Es gibt immerhin einen Bereich, wo langfristig günstige Rahmenbedingungen für Investoren unter der Milei-Regierung gesetzlich verankert werden konnten, in einem parteiübergreifenden Kompromiss: Die Implementierung eines Anreizsystems für große Investitionen, RIGI, die im Rahmen der Verabschiedung des Basisgesetzes vor einem Jahr erreicht werden konnte. Für große Investitionen (über 200 Mio. USD) gewährt dieses System extrem günstige Konditionen, gleichzeitig gesetzliche Garantien für die Stabilität dieser Rahmenbedingungen für 30 Jahre und zudem die Unterwerfung unter eine internationale Gerichtsbarkeit, falls es zu Konflikten kommen sollte. 

 

Im Rahmen dieses RIGI-Systems sind bisher ein gutes Dutzend Projekte angemeldet worden, lediglich vier sind bereits genehmigt. Auf Basis des RIGI ist mit weiteren starken Impulsen für die argentinische Wirtschaft in Bereichen wie Öl und Gas, Bergbau und Infrastruktur zu rechnen. Auch KMU können als Zulieferer und Subunternehmen von diesen Sonderkonditionen profitieren. Es gibt einigen Anlass zur Hoffnung, dass in diesen “Inselbereichen” besonders große und strategisch wichtige Vorhaben tatsächlich umgesetzt werden können. Der Breite der Wirtschaft hilft dies jedoch nur bedingt. 

 

Die Regierung setzt besonders auf drei Exportpfeiler zur Generierung von Devisen: Landwirtschaft, Öl & Gas (Vaca Muerta) und Bergbau (v.a. Lithium und Kupfer). Während die Agrarwirtschaft stabil läuft und der Energiesektor zügig expandiert, wird der Bergbau nicht zuletzt aufgrund langsamer Genehmigungsprozesse und fehlender Infrastruktur länger brauchen, bis er sein Potenzial entfalten kann. Zudem benötigen alle drei Sektoren erhebliche Importvorleistungen, was den positiven Nettoeffekt auf die Zahlungsbilanz mindert. 

 

Ein gutes Umfeld für deutsche Effizienz 

 

Präsident Milei beschrieb Argentinien kürzlich als "unglaublich billig", eine günstige Gelegenheit für Investoren. Dies stimmt - allerdings nur teilweise. Tatsächlich sind die Einstiegspreise für Vermögenswerte derzeit noch niedrig. Doch die laufenden Kosten des Wirtschaftens sind hoch. Für ausländische Investoren bedeutet das: Wer auf Dauer erfolgreich sein will, muss Produktivität und Effizienz deutlich steigern. Hier haben deutsche Unternehmen mit ihrem technischen und organisatorischen Know-how klare Vorteile. 

 

Derzeit herrscht Konsens, dass Argentiniens Wirtschaft auch im kommenden Jahr mit 3 bis 4 Prozent recht kräftig wachsen wird und damit von der Erholungsphase endlich in eine neue Wachstumsphase eintreten könnte. Unmittelbare Geschäftschancen bietet deutschen Unternehmen der rasante Importboom, der Ausrüstungen genauso umfasst wie Konsumgüter. Das zweistellige Wachstum der Investitionen wird mehr als je zuvor vom Erwerb ausländischer Maschinen und Ausrüstungen getragen. 

Fazit: Die wirtschaftliche Erholung ist da – und sie könnte sich fortsetzen. Doch ihr Fundament ist noch brüchig. Ohne stabile Mehrheiten, einen demokratischen Grundkonsens und wirklich tiefgreifende Reformen droht Argentinien der nächste Zyklus von Hoffnung und Enttäuschung.  

 

Ein Schlusswort zu Argentinien in der Geopolitik: Präsident Milei setzt seit Beginn seiner Regierung zuvörderst auf die USA und Israel. Den autoritären Umgang mit der Demokratie, der dort in Mode gekommen ist, pflegt Milei auch in Argentinien. Wer glaubt – oder vielleicht sogar hofft –, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren weltweit verfestigt, könnte sagen, dass Argentinien mit Milei auf diese “neue Zeit" gut vorbereitet ist. Wer hingegen darauf setzt, dass Argentinien, Südamerika und Europa eine stabile demokratische Zukunftsachse in der Welt bilden sollten, muss alles daransetzen, dass Mileis Argentinien so rasch wie möglich in ein Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur eingebunden wird. 

 

Kontakt: Carl.Moses@gmx.net, linkedin.com/in/carl-moses  

In den Kategorien:

Suchen Sie etwas Anderes?

In unserem Informationszentrum finden Sie aktuelle Neuigkeiten, Downloads, Videos, Podcasts...

Zum Info Hub