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Präsidentschaftswahlen in Argentinien: Die Kandidaten für die Vorwahl stehen fest

29.06.2023

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika

Im Oktober wählt Argentinien einen neuen Präsidenten. Doch bereits im August finden Vorwahlen statt, bei denen die endgültigen Kandidaten bestimmt werden und bereits ihre relative Stärke messen. Wir stellen die chancenreichsten Kandidaten vor.

Schon das Warmlaufen zu den Wahlen in Argentinien im Oktober 2023 ist an Spannung und Drama kaum zu überbieten. Seit dem 24. Juni steht immerhin fest, wer für die Kür des nächsten Präsidenten oder der nächsten Präsidentin Argentiniens zur Vorauswahl steht - und vor allem auch, wer nicht. Bei den “offenen, simultanen und obligatorischen Vorwahlen” (PASO in der argentinischen Abkürzung) werden am 13. August die definitiven Präsidentschaftskandidaten und sonstige Kandidatenlisten der jeweiligen Parteien für die Wahlen am 22. Oktober bestimmt. 

Nach einem zähen und am Ende sehr turbulenten Prozess konnte sich das peronistische Regierungsbündnis auf einen vermeintlichen “Kandidaten der Einheit” verständigen. Besser gesagt, der amtierende Wirtschaftsminister Sergio Massa setzte gegen alle internen Widerstände - insbesondere gegen Präsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Kirchner - seine eigene Kandidatur durch. Massa soll nun die in “Unión por la Patria” (Union für das Vaterland, UxP) umbenannte Peronisten-Allianz auch für Antikirchneristen und Bürger aus der politischen Mitte wählbar machen. Dass ein Wirtschaftsminister trotz 140 Prozent Inflation und rasant zunehmender Armut ein wettbewerbsfähiger Präsidentschaftskandidat sein könnte, ist nicht leicht zu vermitteln. Doch der weitgehend ideologiefreie Pragmatiker Massa ist ein Vollblutpolitiker und erfahrener Wahlkämpfer, der seine Haut teuer verkaufen wird. Der als wirtschaftsfreundlich geltende Massa wurde im August 2022 als Notretter zum Minister berufen und hat bisher immerhin verhindern können, dass Argentiniens Wirtschaft vollends im Chaos versunken wäre. Im Ministeramt verbleibend wird Massa weiterhin dafür verantwortlich sein, ein Ausufern der Finanz- und Währungskrise zu verhindern und den dafür erforderlichen Ausgleich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu wahren.

Ganz geschlossen ist die “Einheit” der regierenden “Vaterlandsunion” freilich nicht. Denn auch der linksgerichtete Anführer sozialer Bewegungen, Juan Grabois, bewirbt sich als Präsidentschaftskandidat für die UxP. Cristina Kirchner stellt sich dagegen offenbar bereits auf eine Zeit in der Opposition ein. Umfragen lassen eine krachende Wahlniederlage der Regierung erwarten (http://observatorio.lapoliticaonline.com/presidente). Die ehemalige Staatschefin und amtierende Vizepräsidentin verzichtete zwar auf eine persönliche Kandidatur, sorgte aber dafür, dass ihre Anhänger landesweit die Kandidatenlisten ihrer “Vaterlandsallianz” dominieren. Vor allem in der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires, einer traditionellen Hochburg der Peronisten, scheint die Wiederwahl des Kirchneristen Axel Kicillof als Gouverneur ziemlich gewiss.

Für die Präsidentschaftswahlen deutet indes bislang vieles auf einen Sieg der Opposition hin. Bei der größten Oppositionsallianz “Juntos por el Cambio” (JxC), der unter anderem die liberalkonservative PRO-Partei sowie die sozialliberale Traditionspartei UCR angehören, wird es einen spannenden Wettkampf um die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur geben. Dem amtierenden Regierungschef der Stadt Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, steht dabei die ehemalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich gegenüber. Larreta gilt als Mann des Konsenses, Bullrich dagegen als wirtschaftsliberale und sicherheitspolitische Hardlinerin. Ex-Präsident Mauricio Macri tritt nicht mehr an, hat aber hinter den Kulissen weiterhin erheblichen Einfluss auf die Partei. 

Der Shooting Star der argentinischen Politik ist der selbsternannte Anarchokapitalist Javier Milei, der als alleiniger Kandidat für seine Partei “La Libertad Avanza” (Die Freiheit schreitet voran, LLA) ins Rennen geht. Milei will den Staatsapparat drastisch reduzieren, die Zentralbank abschaffen und Argentiniens Wirtschaft von Grund auf deregulieren.  Ohne Rücksicht auf den Mercosur will Milei alle Zölle senken. Nach dem Vorbild Trumps und Bolsonaros präsentiert sich Milei als Anti-Politiker, der den Frustrierten und Enttäuschten eine Stimme gibt. Nach zehn Jahren Stagnation und jahrzehntelangem Abstieg im Vergleich zum Rest der Welt sind das viele Bürger in Argentinien, in allen Einkommensschichten und in allen politischen Lagern. Bisher bleibt Milei jedoch eine One-Man-Show, die vornehmlich im Großraum Buenos Aires zieht. Im Inland haben seine Kandidaten bisher wenig Erfolg - soweit Mileis Partei dort überhaupt präsent ist.

Unter den politischen Allianzen liegt JxC in den jüngsten Umfragen knapp vor der UxP - und beide recht deutlich vor Mileis "Freiheitspartei”. Auch die Hälfte des Abgeordnetenhauses und ein Drittel der Senatoren werden am 22. Oktober neu gewählt. Aller Voraussicht nach wird keine Partei und kein Bündnis eine eigene Mehrheit im Parlament erreichen.

Der nächste Präsident wird also gezwungen sein, Mehrheiten im Parlament zu suchen. Nach Einschätzung etlicher Wirtschafts- und Politikexperten wird es für die nachhaltige Umsetzung von dringend notwendigen Reformen unerlässlich sein, einen breiten Konsens zu schaffen, der eine stabile Mehrheit im Parlament findet.

Als Kandidaten, die am ehesten Kompromisse in der politischen Mitte schließen könnten, erscheinen Massa und Larreta prädestiniert. Vor allem Larreta strebt parteiübergreifenden Bündnisse an, Massa müsste sich dafür zuerst vom Kirchnerismus lösen. Die größten Schwierigkeiten, seine disruptiven Pläne umzusetzen, hätte im - eher unwahrscheinlichen - Fall seines Wahlsieges sicherlich der selbsternannte Anarchokapitalist Milei, der jede Zusammenarbeit mit der traditionellen politischen “Kaste” ablehnt. Mileis Partei “La Libertad Avanza" dürfte bei den Wahlen immerhin einige Abgeordnetenmandate erzielen, die dem Mitte-rechts-Lager fehlen könnten. Ein Rechtsbündnis, das den libertären Milei einbindet, wäre am ehesten unter einer Präsidentin Bullrich vorstellbar. Bullrich, die zuweilen ähnlich konfrontative Töne anschlägt wie Milei, hatte zuletzt das größte Momentum in den Meinungsumfragen und könnte in der Lage sein, dem politischen Outsider Milei Stimmen abzujagen. Als “nicht kirchneristischer Peronist” geht zudem der Gouverneur der Provinz Córdoba, Juan Schiaretti, ins Rennen. Er könnte vor allem Massa und Larreta Stimmen wegnehmen. 

Die Finanzmärkte reagierten auf das Line-up für die Vorwahlen positiv, mit steigenden Kursen für argentinische Aktien und Anleihen. Alle chancenreichen Präsidentschaftskandidaten gelten als “marktfreundlich”, wenn auch in sehr unterschiedlichem Grade. Alle haben sich eine Sanierung der Staatsfinanzen auf die Fahnen geschrieben. Die für einen langfristigen Aufschwung der argentinischen Wirtschaft notwendigen Reformen würden Bullrich und erst recht Milei rascher und tiefgreifender angehen als Larreta oder Massa. Dafür hätten letztere wahrscheinlich bessere Chancen, einen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, um einen Reformkurs dauerhaft abzusichern. Die größte Opposition gegen marktorientierte Reformen ist vom Kirchnerismus sowie von den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften zu erwarten. Nicht wenige Beobachter befürchten, dass die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Protestierenden und der Polizei dieser Tage in der Provinz Jujuy nur ein kleiner Vorgeschmack auf das soziale Klima ab 2024 gewesen sein könnten.

Kontakt: Carl Moses (Carl.Moses@gmx.net)