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Gelingt die Wende in Argentinien?

20.03.2024

Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika

Präsident Milei hält eisern Kurs. Erste Erfolge und Rückschläge halten sich die Waage. Doch die Konflikte nehmen zu. Binäre Szenarien für Wirtschaft und Politik. 

Man mag von Argentiniens Präsident Javier Milei halten, was man will, aber eines ist gewiss: Selten zuvor hat Argentinien in der Welt so viel Aufmerksamkeit und Interesse erfahren wie seit dem Aufstieg des umstrittenen libertären Ökonomen zum Staatschef der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas. Das zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Delegationen deutscher Politiker und Wirtschaftsvertreter, die sich in den vergangenen Wochen in Buenos Aires die Klinke in die Hand gegeben haben. Milei schafft es weltweit auf die Titelseiten, auch in deutschen Medien reißt der Fluss von neugierigen Berichten, kritischen Analysen und aufgeregten Kommentaren nicht ab. Das "Handelsblatt' brachte zu Mileis ersten hundert Tagen im Amt eine sechsseitige Titelgeschichte. Europa blicke “mit einer eigentümlichen Mischung aus Abscheu und Faszination” auf den streitbaren Milei, der mit einer Mahnrede gegen den “modernen Sozialismus” beim Weltwirtschaftsforum in Davos gehörig Aufsehen erregte, beobachtet die “Wirtschaftswoche”.

Die nüchterne Bilanz der ersten hundert Tage Milei-Regierung fällt indes durchwachsen aus. Einer positiven Entwicklung vieler Finanzindikatoren steht ein dramatischer Einbruch der Realwirtschaft gegenüber. Abgesehen vom Lockdown in der Covid-Pandemie ist die gegenwärtige Rezession die schlimmste seit dem Crash von 2001. Im ersten Quartal 2024 sinkt die Wirtschaftsleistung mit einer saisonbereinigten Jahresrate von 12 Prozent, schätzt die Bank JP Morgan. Eine Besserung im Jahresverlauf wird erwartet. Doch derzeit sind die Kapazitäten der Industrie nur zur Hälfte ausgelastet, die Bereitschaft, in Maschinen und Ausrüstungen zu investieren, ist auf einem Tiefpunkt, ergab eine Umfrage des Industrieverbands UIA. Auch die soziale Lage wird immer prekärer. Ein durchschnittliches Gehalt reicht gemäß amtlichen Daten nicht mehr aus, um eine Familie über der Armutsgrenze zu halten.

Trotz der schweren Rezession sind die Kurse von argentinischen Aktien und Anleihen kräftig gestiegen. Das passt zur Stimmungslage in der Bevölkerung, die besser ist, als man angesichts der zunächst noch einmal dramatisch weiter verschlechterten wirtschaftlichen und sozialen Lage erwarten würde. Die Argentinier hatten Milei im November 2023 vor allem aus Wut und Verzweiflung, aus Protest gegen die alten Eliten gewählt. Inzwischen weckt der selbst ernannte “Anarchokapitalist” aber auch positive Stimmungen. Einige Umfragen deuten darauf hin, dass die Zuversicht inmitten der Krise sogar gestiegen ist. Viele Argentinier hoffen, dass sich die Opfer diesmal lohnen und es spätestens im nächsten Jahr besser wird.

Mileis bisher wichtigster Erfolg ist die Eindämmung der Inflation, die nach einer drastischen Verknappung der Peso-Liquidität schneller als erwartet sinkt, wenn auch von einem horrend hohen Niveau ausgehend. Die monatliche Inflationsrate, die nach der Maxi-Abwertung des Peso und der Aufhebung der Preiskontrollen im Dezember auf 26 Prozent geschnellt war, hat sich im Februar auf 13,2 Prozent halbiert und könnte bis Jahresmitte auf einstellige Raten fallen. Gleichzeitig hält sich der freie Marktkurs des Peso gegenüber dem US-Dollar seit Wochen stabil. Der Unterschied zur offiziellen Tauschrate der Zentralbank, der lange 100 Prozent und mehr betrug, ist auf rund 25 Prozent geschmolzen.

Trotz einer Zunahme der Zentralbankreserven sind Devisen jedoch weiterhin knapp. Eine Lockerung der Devisenbeschränkungen (“cepo”) ist erst zu erwarten, wenn die Überschuldung der Zentralbank abgebaut ist. Mit stark negativen Realzinsen lässt die Notenbank ihre Schulden von der Inflation auffressen, so wie der Finanzminister die Renten und andere Staatsausgaben. Die von Milei versprochene Freiheit ist auch für Unternehmen noch sehr unvollkommen. Wer importieren will, braucht dafür zwar keine Genehmigung mehr. Aber Devisen zur Bezahlung der Importe werden von der Zentralbank nur häppchenweise zur Verfügung gestellt, zudem ist eine Solidaritätssteuer zu zahlen, die Milei sogar von 7,5 auf 17,5 Prozent erhöht hat. Nachdem die Notenbank gerade erst Altschulden restrukturiert hat, häuft sie aus laufenden Importgeschäften überdies schon wieder neue Devisenverpflichtungen an. Gleichzeitig hält die Zentralbank die Abwertung des offiziellen Peso-Wechselkurses deutlich unterhalb der Inflationsrate. Das lässt Argentinien in harter Währung rasant teurer werden und nährt Spekulationen über eine abermalige Maxi-Abwertung im weiteren Jahresverlauf.

Nachhaltig gesichert sind die bisherigen Stabilisierungserfolge auch bei den Staatsfinanzen nicht. Der kurzfristig erreichte Ausgleich der Staatskasse, auf den die Regierung so stolz ist, beruht bisher auf groben provisorischen Maßnahmen, die auf Dauer kaum durchzuhalten sind. Die Rückführung des Staatsdefizits von 5 Prozent des BIP im Jahr 2023 auf eine schwarze Null in den ersten beiden Monaten 2024 gelang nur, weil Finanzminister Caputo Löhne und Renten kaum mehr an die galoppierende Inflation anpasste und die öffentlichen Investitionen ebenso stoppte wie die Zuschüsse des Bundes an die Provinzen. Zudem wurden Energierechnungen einfach nicht bezahlt.

Eine wirkliche Sanierung der Staatsfinanzen müsste durch strukturelle Reformen abgesichert werden, für die Milei bisher keine politische Basis geschaffen hat. Reformen des Steuer- und Rentensystems, die eine dauerhafte Konsolidierung möglich machen könnten, fehlen bisher ebenso wie die überfällige Modernisierung des Arbeitsrechts. Da Milei, dessen eigene Partei im Kongress nur wenige Abgeordnete und Senatoren stellt, bisher nicht fähig oder nicht willens war, im Parlament Mehrheiten zu schmieden, kommen auch seine ehrgeizigen Privatisierungs- und Deregulierungspläne kaum voran. Eine Mischung aus fehlender Kompromissbereitschaft und mangelnder politischer Erfahrung lässt Milei, was nachhaltige Reformen angeht, bisher mit ziemlich leeren Händen dastehen.

Trotz der sozial extrem angespannten Lage hat die Regierung auch bei Sozialprogrammen eine Restrukturierung vorgenommen. Zwar verdoppelte sie das Kindergeld, doch gleichzeitig strich sie vielen Armenküchen die Mittel. Die zunehmenden sozialen Konflikte brechen sich in Streiks und Straßenprotesten Bahn. Kein geringerer als der Internationale Währungsfonds (IWF) mahnt zu Korrekturen. “Pragmatisch am Aufbau sozialer und politischer Unterstützung zu arbeiten”, sei “von entscheidender Bedeutung, um die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit der Reformen sicherzustellen”, bekräftigte IWF-Vizechefin Gita Gopinath bei einem Besuch in Buenos Aires.

Außenpolitisch ist der Kurs der Regierung unterdessen klar ausgerichtet. Milei sieht sich fest im Westen verankert. Den geplanten Beitritt Argentiniens zu der von China geführten BRICS-Gruppe nahm er zurück, stattdessen wird die Bewerbung um eine Aufnahme in die OECD reaktiviert. Außenministerin Diana Mondino strebt im Rahmen des Mercosur den möglichst raschen Abschluss von Freihandelsabkommen mit Drittstaaten und -regionen an, zuvörderst mit der EU. An Argentinien würde das Mercosur-Abkommen jedenfalls nicht mehr scheitern.

Zusammenfassend: Für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens eröffnen sich sehr divergierende Szenarien. Eine weitere Zuspitzung der politischen und sozialen Konflikte würde eine Gesundung der Wirtschaft unmöglich machen. Sollte dagegen der jüngst gestartete neue Anlauf Mileis zu Verhandlungen mit der durchaus gesprächsbereiten Opposition über ein abgespecktes, aber immer noch weitreichendes Reformpaket zu einer erfolgreichen Einigung führen, könnte der Durchbruch zu einem nachhaltigen Aufschwung gelingen.

Wenngleich angesichts der herben politischen Rückschläge für Milei zum Teil bereits spekuliert wird, ob der Präsident sein Mandat überhaupt zu Ende bringen kann, gibt es einen gewissen Anlass zu Optimismus, dass Argentinien den eingeschlagenen Weg zu marktfreundlichen Reformen so bald nicht verlassen wird. Potenzielle Mehrheiten dafür wären im argentinischen Kongress grundsätzlich vorhanden. Früher oder später sollte es gelingen, diese Mehrheiten für die Verabschiedung der notwendigen Reformgesetze tatsächlich zusammenzubringen.

Kontakt: Carl.Moses(at)gmx.net, linkedin.com/in/carl-moses