Argentinien blickt auf ein Jahr der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Megakrise zurück. Eine der längsten und strengsten Quarantänen weltweit konnte nicht verhindern, dass die Covid-19-Pandemie Argentinien am Ende doch mit aller Härte traf. In einem Ranking der Agentur Bloomberg, das neben den Pandemie-Daten auch wirtschaftliche Indikatoren und die Restriktionen individueller Freiheiten berücksichtigt, gehörte Argentinien im November 2020 zu den Ländern, die in der Coronakrise am schlechtesten abschnitten. Noch zur Jahresmitte hatte das Magazin “Time” Argentinien zu den zehn Ländern gezählt, die vermeintlich die besten Antworten auf die Krise fanden. Inzwischen verzeichnet Argentinien nach Peru die meisten Covid-Toten je Einwohner in Südamerika. Gleichzeitig sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Argentinien mit einem Rückgang um 11 Prozent 2020 noch deutlich stärker als in der Gesamtregion (minus 7 Prozent). Als Erfolg bleibt zu verbuchen, dass Argentiniens Gesundheitssystem durch Covid-19 zu keinem Zeitpunkt überlastet war.
Nun ruhen alle Hoffnungen auf der möglichst baldigen Impfung. Argentinien setzt vorerst auf den russischen Impfstoff Sputnik V sowie auf das von AstraZeneca und der Oxford University entwickelte Vakzin, das in Argentinien selbst produziert wird. Mit anderen Impfstoff-Herstellern wird noch verhandelt. Bis zum Beginn einer zweiten Welle, die Experten für den argentinischen Herbst oder Winter, also ab März/April erwarten, sollte gemäß Ankündigungen der Regierung ein großer Teil der besonders vulnerablen Bevölkerung geimpft sein. Eher möglich scheint, dieses Ziel bis zur Parlamentswahl im Oktober 2021 zu erreichen.
Von der weiteren Entwicklung der Pandemie wird natürlich auch das Ausmaß der laufenden Konjunkturerholung abhängen. Alle BIP-Prognosen für 2021, die im Mittel zuletzt bei knapp 5 Prozent lagen, sind mit sehr großer Unsicherheit behaftet. Die Beratungsfirma Ecolatina entwarf unterschiedliche Szenarien, nach denen das BIP-Wachstum 2021 zwischen plus 6 und minus 3 Prozent liegen könnte. Entscheidend wird sein, inwieweit es der Regierung gelingen kann, das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik zurückzugewinnen. Trotz der erfolgreichen Umschuldung von 65 Milliarden Dollar Anleiheschulden im August 2020 werden argentinische Staatspapiere immer noch auf Pleiteniveau zu weniger als 40 Prozent des Nennwerts gehandelt. Heiß begehrte Devisen sind auf den verschiedenen Parallelmärkten bis zu 80 Prozent teurer als am offiziellen Markt, der nur beschränkt zugänglich ist. Ökonomen streiten darüber, ob zu wenig Devisen oder eher zu viele Pesos auf dem Markt sind. In jedem Fall fehlt es an Vertrauen. Da zur Finanzierung des hohen Staatsdefizits von 9 Prozent des BIP keine ausreichenden Kredite verfügbar sind, muss die Zentralbank zum Ausgleich der Staatskasse zu viele Pesos drucken, die niemand in der Hand behalten möchte. Das treibt die parallelen Wechselkurse und zuletzt auch die durch Preiskontrollen nur vorübergehend zurückgestaute Inflation (2020: 37 Prozent) wieder in die Höhe.
Das Augenmerk richtet sich nun auf das geplante Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), das spätestens im April 2021 ausgehandelt sein sollte und einen Stabilitätsanker für die Erwartungen setzen könnte. Eine Einigung mit dem IWF allein würde indes noch keine Rückkehr zur Stabilität garantieren. Investoren und Verbraucher schauen mit Sorge auf die Konflikte innerhalb des Regierungsbündnisses Frente de Todos. Immer wieder wird der Stabilisierungskurs von Wirtschaftsminister Martín Guzmán durch “freundliches Feuer” aus dem Lager von Vizepräsidentin Cristina Kirchner torpediert. Vor diesem Hintergrund erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Videobotschaft, in der gegenwärtigen Krise sei es für Argentinien “besonders wichtig, das Vertrauen internationaler Gläubiger und Marktakteure zurückzugewinnen”. Das verlange von Argentinien “klare politische Signale”, bekräftigte Merkel. Ähnlich äußerte sich IWF-Chefin Kristalina Georgieva.
Zumindest das externe Umfeld entwickelt sich günstig für Argentinien. Die Preise von Soja und anderen Rohstoffen sind zuletzt stark gestiegen. Das kräftige Wachstum in China und anderen Ländern Asiens dürfte diesen Trend stützen. Wie sehr Argentiniens Agrarindustrie das attraktive Exportpotenzial ausschöpfen kann, hängt allerdings davon ab, ob das Klima mitspielt und die drohende Dürre mild ausfällt. Das Nachbarland Brasilien, Argentiniens wichtigster Exportkunde für Industriewaren, erholte sich schneller als erwartet von der Coronakrise. Risiken in Brasiliens Staatsfinanzen gefährden indes die Fortsetzung des Aufschwungs. Von der üppigen globalen Liquidität und dem Zufluss von Kapital in Schwellenländer kann Argentinien aufgrund seiner hausgemachten Risiken bisher kaum profitieren.
Angesichts der Erwartung einer drastischen Peso-Abwertung und steigender Inflation beschert eine massive Flucht in Sachwerte derweil eine Sonderkonjunktur für die Nachfrage nach Autos, Hausgeräten und anderen dauerhaften Konsumgütern. Selbst Zementsäcke und Baufarben werden gehortet, um der Inflation zu entkommen. Da die Baukosten in Dollar zum Parallelkurs gerechnet derzeit niedrig sind, lenken viele Argentinier überdies einen Teil ihrer umfangreichen Dollarrücklagen in Bauvorhaben. Diese Trends dürften sich 2021 fortsetzen. Darüber hinaus bietet die durch Corona beschleunigte Digitalisierung der Wirtschaft gerade deutschen Unternehmen gute Chancen. Bei aller Unsicherheit über weitere Wendungen der argentinischen Wirtschaftspolitik scheint eines sicher: Devisen werden in Argentinien auf absehbare Zeit knapp bleiben. Wer frische Devisen ins Land bringt oder Importe substituiert, dürfte darum nicht nur von der Regierung, sondern auch von privaten Partnern mit Sonderkonditionen und Vorzugsbehandlung belohnt werden.
Kontakt: Carl Moses
GTAI-Korrespondent
Buenos Aires, 19.12.2020