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Argentiniens Angebot an eine Welt im Umbruch

22.06.2022

Präsident Alberto Fernandez stellt Europa Nahrungsmittel und Energie in Aussicht. Gleichzeitig muss Argentinien die eigene Energieversorgung sichern und die Inflation in den Griff bekommen. Erhält das EU-Mercosur-Abkommen eine neue Chance?

Selten waren die Diskrepanzen zwischen der aktuellen Lage und den kurz-, mittel- oder langfristigen Perspektiven der Wirtschaft in Argentinien so ausgeprägt wie zurzeit. Während im bisherigen Jahresverlauf 2022 die Geschäfte bei vielen Unternehmen brummen, sind die Aussichten für die kommenden Monate - und erst recht für das Wahljahr 2023 - von enormer Unsicherheit geprägt. Auf lange Sicht tun sich dagegen große neue Chancen auf.

Die erwähnten Diskrepanzen spiegeln sich auch in einigen scheinbar widersprüchlichen Konjunkturindikatoren. Obwohl das Vertrauen der Konsumenten laut der monatlichen Umfrage der Universität UTDT in der Nähe von langfristigen Tiefständen liegt, konsumieren diejenigen Argentinier, die es sich noch leisten können, als gäbe es kein Morgen. Die Restaurants von Buenos Aires sind voll, die letzte Feriensaison brach alle Rekorde. Trotz knapper Devisenreserven der Zentralbank erreichten die Warenimporte zuletzt ein historisches Rekordniveau. Und trotz des allenthalben als schlecht bezeichneten Investitionsklimas lagen die Investitionen in den ersten vier Monaten 2022 um 15 Prozent über dem Vorjahr, nachdem sie schon 2021 um 23 Prozent gestiegen waren. Gemessen an dem Potenzialwachstum der argentinischen Wirtschaft, das die Bank JP Morgan auf lediglich 1,25 Prozent per annum schätzt, kann die Konjunktur trotz der miserablen Stimmung im Land derzeit sogar als überhitzt gelten. Im ersten Quartal 2022 wuchs die Wirtschaft um 6 Prozent im Vorjahresvergleich. Von nun an wird allerdings eine deutliche Abkühlung erwartet.

Zu den gewaltigen Risiken und Unwägbarkeiten des globalen Szenarios kommen in Argentinien hausgemachte Unsicherheitsfaktoren hinzu. Die für Oktober 2023 angesetzten Wahlen werfen ihren Schatten weit voraus und lassen die politischen Spekulationen und Positionierungskämpfe schon jetzt heiß laufen. Das im März geschlossene Abkommen mit dem IWF hat nur vorübergehend zu einer Beruhigung der Märkte geführt. Die Regierung, die nie Zugang zu ausländischen Krediten fand, hat nun auch zunehmende Schwierigkeiten, sich in lokaler Währung zu verschulden. Die darum erforderliche Finanzierung des Staatsdefizits durch Überweisungen der Zentralbank hat die Inflation auf über 60 Prozent getrieben. Wenn die Rate im Gesamtjahr 2022 unter 80 Prozent bliebe, wäre dies als Erfolg zu werten. Trotz rekord hoher Exporterlöse verharren die Devisenreserven auf niedrigem Niveau. Die Knappheit von Devisen zum offiziellen Wechselkurs wird sich den Prognosen vieler Experten zufolge im zweiten Halbjahr verschärfen. Sollte dies zu Lasten der Importe gehen, würde automatisch auch die Wirtschaftsaktivität darunter leiden, denn 85 Prozent der argentinischen Warenimporte entfallen auf Rohstoffe, Vor- und Zwischenprodukte sowie Maschinen und Ausrüstungen für die heimische Produktion.

Die langfristigen Perspektiven Argentiniens geben dagegen Anlass zu verhaltenem Optimismus, in einigen Branchen gar zu Euphorie. Besonders im Bereich der erneuerbaren Energien, wo sich für Argentinien mit dem grünen Wasserstoff ein völlig neues Geschäftsfeld im Export eröffnen könnte. Zwar wird Argentinien bei der Produktion und dem Export von grünem Wasserstoff vielleicht nicht zu den Vorreitern in Südamerika gehören. Denn bisher hat Argentinien für die Wasserstoffwirtschaft weder eine Strategie noch einen gesetzlichen Rahmen, von einem geeigneten Investitionsklima ganz zu Schweigen. Doch es kann kaum einen Zweifel geben, dass Argentinien - wenn der globale Hochlauf der grünen Wasserstoffwirtschaft so wie vor allem in Deutschland geplant und erhofft in Schwung kommt - früher oder später zu einem wichtigen Player auf diesem Markt werden wird. Das Potenzial Südamerikas für grünen Wasserstoff war auch der Hauptgrund für den Besuch der Parlamentarischen Staatssekretärin im BMWK, Franziska Brantner, Mitte Juni in Argentinien, Chile und Uruguay. “Wir haben bei Russland und dem Gas eine harte Lektion gelernt, dass wir nie wieder von einer einzigen Quelle für Energie abhängig sein wollen,” sagte Brantner im Gespräch mit GTAI. Bei der Diversifizierung komme Südamerika ins Spiel. “Südamerika ist eine strategische Priorität für uns.”

Auf beiden Seiten der Anden ging es bei Brantners Besuch zudem um die großen Vorkommen von Lithium, einem strategischen Rohstoff für die Elektromobilität. Die größten Produktionszuwächse bei Lithium sind in den kommenden Jahren in Argentinien zu erwarten. Nach Schätzungen des Deutsche Bank Research könnte sich Argentiniens Anteil am Weltmarkt für das Ultraleichtmetall bis 2030 auf 17 Prozent nahezu verdreifachen. Fast zwei Dutzend Lithiumprojekte mit insgesamt 6,5 Milliarden Dollar Investitionen sind in Bau oder in der Pipeline. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Bergbau sind in Argentinien bereits seit den 90er Jahren günstig, in einigen Provinzen des Landes mehr als in anderen. Die Regierung hat für Bergbauprojekte kürzlich auch die strengen Devisenrestriktionen etwas gelockert -, über 20 Prozent der Deviseneinnahmen aus zusätzlicher Produktion sollen die Unternehmen künftig frei verfügen dürfen.

Argentiniens Staatspräsident Alberto Fernández ist in letzter Zeit viel im Ausland unterwegs. Vielleicht weil der Staatschef im Ausland derzeit deutlich mehr Zuspruch und Unterstützung findet als zuhause in Argentinien. Nach einem wenig glücklichen Auftritt bei Wladimir Putin in Moskau wenige Tage vor Russlands Überfall auf die Ukraine und einem anschließenden Kotau in China folgten zuletzt Visiten in Deutschland, Frankreich und Spanien sowie der Amerika-Gipfel in den Vereinigten Staaten. In Europa pries der argentinische Präsident sein Land als Lieferant von Nahrungsmitteln und Energie, die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine knapp zu werden drohen und deren Preise jetzt schon explodieren. Allerdings muss Argentinien selbst zunächst die notwendige Infrastruktur im eigenen Land schaffen, um seine enormen Schieferöl- und -gasreserven fördern, verarbeiten und exportieren zu können. Die lange Verzögerung des Baus einer neuen Gaspipeline von der riesigen Öl- und Gaslagerstätte Vaca Muerta nach Buenos Aires ist da nicht sehr ermutigend. Bisher ist Argentinien selbst auf Netto-Energieimporte angewiesen, für deren Bezahlung  in den kommenden Wintermonaten die Devisen knapp werden könnten. Auch die Weizenernte der nächsten Anbauperiode droht niedrig auszufallen, unter anderem weil die Regierung die Landwirte durch Exportbeschränkungen und Pläne für noch höhere Steuern verunsichert. Der langfristige Wachstumstrend der argentinischen Agrarproduktion, die jetzt schon das Zehnfache der eigenen Bevölkerung ernähren kann, dürfte dennoch intakt bleiben.

Auch für das seit drei Jahren stockende Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur haben sich die Perspektiven in der neuen geopolitischen Lage möglicherweise gebessert. Die demokratischen Staaten Europas und Südamerikas werden sich ihrer historischen und kulturellen Verbundenheit wieder stärker bewusst. Rasche Fortschritte bei der Vollendung des Abkommens sind dennoch nicht zu erwarten. Alberto Fernández macht dafür den Protektionismus in der EU verantwortlich, die Europäer wollen zunächst strengere Sanktionen für Umweltschädigungen vereinbaren bevor sie dem Vertrag endgültig zustimmen. Das nächste Fenster für Fortschritte zur Inkraftsetzung des historischen Vertrages könnte sich nach den Wahlen in Brasilien öffnen. Über die kurze Frist hinaus zu denken, fällt in Argentinien vielleicht besonders schwer. Aber genau dies zu tun, das ist was die deutschen Unternehmen am Río de la Plata schon immer ausgezeichnet hat.

Kontakt: Carl Moses | GTAI, Buenos Aires | Carl.Moses(at)gtai.de